Saskia Esken im Interview: »Wir planen 400.000 Wohnungen pro Jahr!«
Das Interview mit der SPD-Bundesvorsitzenden Saskia Esken wurde am 22. Juni 2021 am Rande einer Wahlkampfveranstaltung der SPD Altona am Osdorfer Born geführt. Auf dem „Roten Sofa“ der Jusos Altona hat Susmit Benerjee Saskia Esken — gemeinsame Bundesvorsitzende mit Norbert Walter-Borjans — für das Altonaer Echo exklusiv zu sozialdemokratischen Themen und dem anstehenden Bundestagswahlkampf befragt.
Altonaer Echo: Hier in Altona war unser Kanzlerkandidat Olaf Scholz lange Jahre politisch erfolgreich aktiv für die SPD. Was könnte es für den Hamburger Bezirk Altona bedeuten, dass ein Mensch von hier der nächste Bundeskanzler werden soll? Warum ist Olaf Scholz der richtige Bundeskanzler für Deutschland?
Saskia Esken: Für Altona und ganz Deutschland bedeutet die Kanzlerschaft von Olaf Scholz, dass die Dinge, die in diesem Land schon so lange brachliegen, endlich angegangen werden.
Da sind die wichtigen Zukunftsmissionen, die wir als SPD formuliert haben, und da ist unser Ziel, dieses Land zu gestalten als eine Gesellschaft des Respekts. Olaf Scholz ist ein Macher, der Erfahrung darin hat, wie man Politik und Regierung organisiert, damit es vorwärts geht.
„Olaf Scholz ist ein Macher, der Erfahrung darin hat, wie man Politik und Regierung organisiert, damit es vorwärts geht.“
Deshalb wollen wir, dass Olaf Scholz der nächste Bundeskanzler wird und dass er mit einer progressiven, SPD-geführten Regierung dieses Land voranbringt.
AE: Altona ist ein Teil der Stadt Hamburg, der sehr lange eigenständig war und stolz ist auf eine offene Kultur, was man schon am Stadtwappen mit den geöffneten Toren erkennt. Altona ist bunt und divers. Warum ist die SPD gerade beim Thema Integration die richtige Partei – und welche besondere Rolle spielt die SPD als Bollwerk gegen Rechtsextremisten und Rassisten?
SE: Wir erleben in Deutschland gerade eine Entwicklung, die zweischneidig ist: Zum einen hat in vielen Bereichen und Regionen die Gesellschaft in den letzten rund 25 Jahren ihr Herz geöffnet. Wir sind als Gemeinschaft sehr integrativ. Dabei will ich deutlich sagen, dass ich Integration nicht als eine Leistung derer definiere, die draußen stehen, sondern als eine Aufgabe der Gesellschaft als Ganzes, die sich öffnen und die integrieren muss.
Auf der anderen Seite haben wir Teile der Bevölkerung, die genau diese Entwicklung ablehnen und sich abgehängt fühlen. Einige schotten sich ab und wenden sich Parteien wie der AfD zu. Das bereitet uns große Sorgen. Längst sind die Grundstrukturen und Unterstützungskreise dieser Partei rechtsradikal und rechtsextremistisch.
Hier sind nicht nur die Sicherheitsbehörden gefragt, sondern auch wir als demokratische Gesellschaft. Die SPD steht seit 158 Jahren unverbrüchlich gegen Rechts. Wir werden nicht zurückweichen und wir werden nicht zulassen, dass Hass und Hetze unsere offene Gesellschaft bedrohen.
AE: Menschen, die in einer Großstadt leben, wie hier in Altona, stehen vor ganz eigenen Herausforderungen, zum Beispiel beim Wohnen und bei den Mietpreisen. Was kann die SPD für Mieterinnen und Mieter machen?
SE: Viele Menschen geben von ihrem Einkommen mehr als ein Drittel und sogar bis zu 55 Prozent ihres Einkommens für Wohnen aus. Das darf so nicht sein! Gerade in den Städten schießen die Mieten durch die Decke. Wir müssen deshalb durch ein Bundesgesetz die Deckelung von Mieten ermöglichen.
Wir brauchen ein Mieten-Moratorium, bis wieder genügend Wohnungen gebaut sind, damit der Mangel an Wohnraum behoben ist und sich die Mietpreise normalisieren. In den letzten Jahren sind viel zu wenige Wohnungen gebaut worden, gerade auch von der öffentlichen Hand. Zurzeit fallen mehr Wohnungen aus der Sozialbindung heraus als neue hinzukommen. Deshalb haben wir als SPD vor, pro Jahr in Deutschland 400.000 neue Wohnung zu bauen — und von diesen muss mindestens ein Drittel im bezahlbaren Bereich, in Sozialbindung, sein.
Neben dem Wohnen ist Menschen, die in der Stadt leben, auch der Verkehr und die Mobilität wichtig. Als SPD wollen wir, dass der öffentliche Personennahverkehr leistungsfähig ausgebaut wird und zwar so, dass man ihn bezahlen kann. Wir brauchen Tickets, die sich jeder leisten kann! Eine wirklich gute Idee ist zum Beispiel die 365-Euro-Jahreskarte.
AE: Die SPD ist die Partei der Arbeitenden und die Partei der Beschäftigten. Es geht ihr um die Würde der Arbeit. Aber was bedeutet das konkret für die Menschen und ihre Jobs?
SE: Es geht um Löhne, es geht um Arbeitsbedingungen, um Aus- und Weiterbildung und um Mitbestimmung. Die Welt, in der wir uns befinden, verändert sich, und diesen Wandel wollen wir demokratisch gestalten. Insofern müssen wir auch unsere Wirtschaftsdemokratie weiterentwickeln durch mehr Mitbestimmung der Beschäftigten.
Der sozial-ökologische Wandel und der digitale Wandel verändern auch die Arbeitswelt. Hier brauchen wir die Expertise und die Erfahrungen der Beschäftigten — und die wird bei uns seit mehr als 100 Jahren erfolgreich organisiert in Betriebsräten.
Und gerade deswegen ist es wichtig, auch neu gegründeten Unternehmen deutlich zu machen, dass Beteiligung der Mitarbeitenden durch Betriebsräte ein entscheidender Punkt ist, um am Markt zu bestehen und zu wachsen. Dagegen braucht sich niemand zu wehren — im Gegenteil: Es hilft einem Unternehmen, sich weiter zu entwickeln, wenn die Angestellten mitbestimmen.
Gute Arbeit muss auch gut bezahlt werden. Dafür braucht es starke Tarife, aber auch einen Mindestlohn als untere Haltelinie. Für die SPD ist dabei ganz klar: Ein Lohn aus Arbeit in Vollzeit muss zum Leben reichen! Es ist doch nicht in Ordnung, wenn arbeitende Menschen vor dem Ende eines Monats zum Sozialamt gehen müssen, um ihren Lohn aufzustocken. Deshalb ist der Mindestlohn von zwölf Euro pro Stunde ein zentrales Anliegen der SPD.
„Gerade deswegen ist es wichtig, auch neu gegründeten Unternehmen deutlich zu machen, dass Beteiligung der Mitarbeitenden durch Betriebsräte ein entscheidender Punkt ist, um am Markt zu bestehen und zu wachsen.“
Grundsätzlich muss es uns darum gehen, wieder mehr Ordnung auf dem Arbeitsmarkt herzustellen. Zum Beispiel sind 40% aller Neuanstellungen heutzutage befristet – und zwei Drittel davon ohne jeden Sachgrund. Gerade junge Menschen bekommen häufig nur befristete Angebote. Man erwartet von ihnen höchste Mobilität und Flexibilität.
Aber was bedeutet das für unsere Gesellschaft? Junge Menschen können sich deshalb nicht niederlassen, sie bekommen keine Wohnung und keinen Kredit. Sie gründen keine Familie, kandidieren nicht für den Stadtteil-Beirat und werden nicht im Verein oder in der Partei aktiv. Das Ziel der SPD ist deshalb, diese willkürlichen Befristungen, die keinen sachlichen Grund haben, vollständig abzuschaffen!
AE: Nach dem Berufsleben hoffen viele auf eine gute Rente. Hier sehen wir große Herausforderungen für die nächsten Jahrzehnten. Ist die SPD die richtige Partei, wenn es um Rentnerinnen und Rentner geht und für die, die es mal werden wollen?
SE: Unsere Rentenversicherung muss auf eine breitere Basis gestellt werden, so dass alle einbezahlen. Zusätzlich muss dort, wo es notwendig ist, die Rentenversicherung durch Steuermittel aufgestockt werden. Denn bestimmte Aufgaben, die eher die Gesamtgesellschaft stemmen muss, sollten nicht allein aus den Arbeitseinkommen bezahlt werden, sondern aus Steuern.
Besonders wichtig ist uns als SPD die Grundrente. Sie ist eine fundamentale Neuerung, denn sie ist zwar nicht viel höher als die Grundsicherung, aber viele Menschen nehmen diese Grundsicherung gar nicht in Anspruch, weil man sie gesondert beantragen muss.
Wer bislang nach einem langen Arbeitsleben zum Sozialamt musste, um die Rente aufzustocken, empfand dies oft als würdelos und hat deshalb auf die Grundsicherung verzichtet. Auf die Grundrente haben Rentner und Rentnerinnen mit zu geringen Renten einen Anspruch, der automatisch geprüft und gewährt wird.
„Es ist in Ordnung, dass es mehrere gesetzliche Krankenversicherungen gibt und dass man die Auswahl hat, aber es braucht keine privaten Krankenversicherungen, die Dumping betreiben.“
Wir sind als SPD sehr stolz auf diese wichtige Weiterentwicklung des Sozialstaats. Trotzdem kommt es vor allem weiter darauf an, dass wieder Arbeitslöhne gezahlt werden, die hoch genug sind, um gute Renten zu erwirtschaften. Auch deswegen ist es wichtig, den Mindestlohn zu erhöhen und für mehr Tarifbindung zu sorgen!
Gewerkschaften, die stark sind, verhandeln für ihre Mitglieder gute Tarifverträge. Das hat sich seit Bestehen der Bundesrepublik bewährt. Als SPD sind wir an der Seite der Gewerkschaften.
AE: Neben der Rente ist eine andere wichtige soziale Säule unserer Gesellschaft die Krankenversicherung. Ist die Krankenversicherung, wie wir sie heute haben, gerecht ausgestaltet oder wo könnte sie verbessert werden?
SE: Wir haben durch die gesetzliche Krankenversicherung und die private Konkurrenz eine Zwei-Klassen-Gesellschaft in der medizinischen Versorgung. Dem müssen wir aus Gründen der Solidarität einen Riegel vorschieben! Als SPD sagen wir, die Solidargemeinschaft ist der richtige Weg für unsere Gesellschaft.
Es ist in Ordnung, dass es mehrere gesetzliche Krankenversicherungen gibt und dass man die Auswahl hat, aber es braucht keine privaten Krankenversicherungen, die Dumping betreiben. Sie locken junge Menschen mit günstigen Tarifen an, die später steigen müssen, weil die Menschen dann nicht mehr so gesund sind wie in jungen Jahren.
Deswegen will die SPD mit der Bürgerversicherung dafür sorgen, dass alle in die gesetzliche Krankenversicherung einbezahlen. Damit tragen wir gemeinsam dazu bei, dass die Gesundheitsversorgung so gut bleibt, wie wir sie in Deutschland haben, und dass sie für alle bezahlbar bleibt.
AE: Gerade hier in Altona als einem Bezirk, der klassisch von Arbeit geprägt ist, sind Beruf und Ausbildung von großer Bedeutung. Was kann die SPD dafür tun, dass sich die Bildungsgerechtigkeit in Deutschland weiter verbessert?
SE: Als SPD wollen wir dafür sorgen, dass der Bildungserfolg von Kindern nicht vom Geldbeutel der Eltern abhängt und auch nicht vom Geldbeutel der Kommunen. Überall in Deutschland sollen gleichwertige Lebensverhältnisse und gerechte Bildungschancen ermöglicht werden. Deshalb haben wir uns — und ich mich persönlich — für den Digitalpakt eingesetzt, also für das Investitionsprogramm, das die zeitgemäße Ausstattung der Schulen, der Lehrkräfte, der Schülerinnen und Schüler ermöglicht.
Daneben stehen wir für Gemeinschaftsunterricht und Ganztagsschulen. Denn es soll nicht die Unterstützung am Nachmittag darüber entscheiden, wer einen guten Bildungserfolg hat, sondern wir wollen, dass die Schulen in der Lage sind, für alle Kinder und Jugendlichen genau die Förderung zu organisieren, die sie individuell brauchen. Das ist auch der richtige Weg für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf.
Beim Thema berufliche Ausbildung kommt es darauf an, dass wir den Anteil derer verringern, die ohne Abschluss von der Schule abgehen. Als SPD wollen wir die Schulen dabei unterstützen, alle Schülerinnen und Schüler zu einem Abschluss zu begleiten, damit sie anschließend eine berufliche Ausbildung beginnen können. Schließlich ist die duale Berufsausbildung, die wir in Deutschland haben, ein System, für das wir in der ganzen Welt beneidet werden.
Aber wir erleben leider im Moment, dass sich gerade große Unternehmen aus der Ausbildung zurückziehen. Das halte ich für verantwortungslos. Deswegen steht die SPD für eine Ausbildungsgarantie. Junge Menschen ohne Ausbildungsvertrag sollen zunächst in eine überbetriebliche Ausbildung starten, damit sie die Chance bekommen, sich in der Praxis zu zeigen und Erfolge zu erleben.
Alle in der Wirtschaft sollen Verantwortung für die Zukunft unserer Jugend und die Zukunft unserer Volkswirtschaft übernehmen. Es wird ja an vielen Stellen über einen Mangel an Fachkräften geklagt. Sich gleichzeitig aus der Ausbildung rauszuhalten — als SPD finden wir, dass das so nicht zusammenpasst.
AE: Saskia, vielen Dank für das Interview.
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Susmit Jens Banerjee ist Mitglied im Vorstand der SPD Flottbek-Othmarschen. Außerdem ist er als Betriebsrat und Gewerkschafter im SPD Bundesvorstand der Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerinnen- und Arbeitnehmerfragen (AfA) aktiv.